„Mein Leben begann am Ende“ – Eine Zeitzeugin des Holocaust zu Besuch am WBG

von Hans-Jürgen EntingAktuelles0 Kommentare

Ein Bericht von Hanna Degenhardt und Johanna Vergin (Stufe Q2)

Im Geschichtsunterricht haben wir uns schon mit dem Holocaust, der Ermordung der europäischen Juden, beschäftigt. Dass es etwas ganz anderes ist, eine Zeitzeugin darüber reden zu hören, erfuhren wir am letzten Donnerstag. Da war nämlich die 88jährige Halina Birenbaum zu Gast an unserer Schule und berichtete in einem bewegenden Vortrag vom Schicksal ihrer Familie und ihrem eigenen Überleben, das sie nur einer Reihe von Zufällen verdankt.

Frau Birenbaum, welche am 15. September 1929 in Warschau geboren wurde, musste ihre Jugend im Warschauer Ghetto verbringen, wo sie unter schlechten Lebensbedingungen mit ihren zwei Brüdern und ihren Eltern zu überleben versuchte. Im Alter von zehn Jahren war für sie eine unbeschwerte Kindheit schon nicht mehr möglich, da sie sich mit dem einsetzenden Krieg auseinandersetzen musste. Anfangs hoffte sie auf einen kurzen Kriegsverlauf und darauf, dass das Leben schnell wieder normal werden würde, doch nach ein paar Wochen fiel Warschau und die Familie war gezwungen zu fliehen. So folgte ein Leben in Not, denn: „Es gab zu wenig von allem“. Unter ständiger Angst vor Verschleppung mussten sie immer wachsam sein, ständig ihren Aufenthaltsort ändern und mit all ihrer Kleidung schlafen. Um das Überleben zu sichern, suchten alle Familienmitglieder nach Arbeit. Halina selbst musste sich dafür als älter ausgeben, der Bruder arbeitete im Krankenhaus und der Vater beseitigte die Leichen auf dem Umschlagplatz, der damaligen Berufsschule, wo circa 350.000 Juden dem SS zum Opfer gefallen sind.

Trotz großer Anstrengung konnte sich die Familie schließlich nicht vor den SS-Schergen retten und wurde ins Warschauer Ghetto verschleppt. Halinas Vater wurde schon im Alter von 47 Jahren von der Familie getrennt und schließlich ermordet, während Halina und ihre Mutter in das Konzentrationslager in Majdanek deportiert wurden. Der ältere Bruder versteckte sich und blieb mit der letztlich vergeblichen Hoffnung, dass sein Medizinstudium ihn verschonen würde, in Warschau zurück, wohingegen der jüngere Bruder aus dem fahrenden Zug zum Konzentrationslager sprang und so letztendlich sein Leben rettete.

Majdanek war für ihre Mutter die letzte Station des Lebens, wobei Halina dem Schicksal ihrer Mutter nur durch Zufall entging und aufgrund eines Mangels an Zyklon-B, dem Tötungsgas, den Lageraufenthalt überlebte. So wurde sie mit einem weiteren Zug nach Auschwitz transportiert, wo sie unter anderem zwischen zwei elektrischen Zäunen Unkraut zupfen musste. Eine falsche Bewegung – und ihr Leben wäre zu Ende gewesen. „Das Leben im KZ war im Vergleich zum Ghetto unmenschlich“, erzählte die Zeitzeugin in ihrem bewegenden Vortrag. Beispielsweise mussten sich mehrere Leute gemeinsam eine Schlafpritsche teilen, wodurch die Anzahl der Erkrankten durch die Enge drastisch anstieg. Durch regelmäßige „Selektionen“ wurden die Kranken von den Gesunden, die noch gesund Aussehenden von den Entkräfteten und die Männer von den Frauen getrennt. So sollte auch Halinas einzige Freundin von ihr isoliert werden, doch Halina wollte sich dagegen wehren und gelangte wegen  Widersetzung ebenfalls auf die Todesliste. Ein deutscher Wachmann hatte Erbarmen und strich beide Mädchen von der Liste. In den folgenden Monaten kämpfte die Freundin ums Überleben, sodass Halina ihr ihr Essen überließ, obwohl es für sie selbst kaum zum Überleben reichte. Letztendlich wurde Halina in ein weiteres Lager geschickt,  ihre Freundin starb in Auschwitz. In Ravensbrück entkam Halina nur knapp dem Tod, da ein SS-Mann auf sie schoss,  doch er verfehlte sein Ziel und Halina überlebte mit einer Kugel im Rücken, was sie trotz katastrophaler hygienischer Zustände im Lager überlebte.

Im Alter von 15 Jahren wurde sie 1945 von der vorrückenden Roten Armee befreit, sie kehrte nach Warschau zurück und traf dort zufällig auf ihren Bruder, den einzigen Überlebenden ihrer Familie. In den folgenden Jahren baute sie sich in Israel ein neues Leben auf, heiratete und bekam zwei Kinder. Sie schrieb mehrere Bücher und Gedichte über ihre Erlebnisse und engagiert sich seit vielen Jahren im Namen der Holocaust-Überlebenden dafür, den Opfern ein Gesicht zu geben und die Erinnerung an den Völkermord wachzuhalten.

In der Mensa des Willy-Brandt-Gymnasiums herrschte während des gesamten Vortrags betroffenes Schweigen. Alle Schülerinen und Schüler hörten der Zeitzeugin gespannt zu, während sie von ihrem Schicksal, ihren Gefühlen und Eindrücken, welche durch die Grausamkeit der damaligen Zeit hervorgerufen wurden, berichtete. Insgesamt war es ein eindrückliches Erlebnis, über das wir uns hinterher noch intensiv ausgetauscht haben.

 

 

AUS DER ANKÜNDIGUNG:

Das WBG lädt alle Schülerinnen und Schüler der Oberstufe, ihre Eltern und die Oer-Erkenschwicker Bürgerinnen und Bürger zu einem Zeitzeugengespräch (Di., 24.01.17, EF und Do., 26.01.17, Q1 und Q2, 14.30 Uhr, Mensa) herzlich ein. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist für diejenigen Schülerinnen und Schüler der EF, die Dienstag und die der Q1, die Donnerstag in der 7. und 8. Stunde Unterricht haben, verpflichtend. Der Entritt ist frei. Vielen Dank dem Förderverein des WBG.

Halina Birenbaum ist 1929 in Warschau geboren, ihre Jugend muss sie im Warschauer Ghetto und in den Konzentrationslagern Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück verbringen. Als sie 1945 befreit wurde, war sie15 Jahre alt.

„Ich konnte mich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, daß es meine Mutter nicht mehr gab, daß sie nicht mehr da war, daß ich sie nie wieder sehen würde!“ (Birenbaum, 1989, S.80)

Sie kehrt nach Warschau zurück und findet dort ihren Bruder, den einzigen Überlebenden ihrer Familie. Der Kontakt zu einer Kibbuzgruppe, die sich auf die Ausreise nach Palästina vorbereitet, führt Halina Birenbaum über einen mehrmonatigen Aufenthalt in Deutschland nach Paris, wo sie zunächst zögert, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen; schließlich emi-griert sie 1947 nach Israel.

Der Anfang in Israel ist hart, die Realität im Kibbuz entspricht nicht ihren Erwartungen; während der Aufbaujahre unter Kriegsbedingungen ist außerdem niemand an den Erfahrungen während ihrer Leidenszeit in den Konzentrationslagern interessiert. In mehrerlei Hinsicht enttäuscht, versucht Halina Birenbaum, inzwischen verheiratet, sich im Süden Tel Avivs eine neue Existenz aufzubauen. Zwei Söhne wachsen dort zunächst unter schwierigen Bedingungen auf. Schließlich findet die Familie eine gesicherte Existenz in Herzlia, der Partnerstadt von Marl.

Mitte der sechziger Jahre erscheint ihr  erstes  Buch „ Die Hoffnung stirbt zuletzt“, in ihrer Muttersprache polnisch, es folgen schnell die englische und deutsche Übersetzung des Buches. Das Leben und der Tod in der Besatzungszeit, das Martyrium der polnischen Juden in den Ghettos und in den Konzentrationslagern bilden das Hauptthema von Prosa und Dichtung  Halina Birenbaums. Hinweis: Halina bringt zu jedem Gespräch ihr Buch  „Die Hoffnung stirbt zuletzt“,  mit, das für 15 € von den interessierten ZuhörerInnen erworben werden kann.

1986 kehrt sie erstmals nach Auschwitz zurück, in den folgenden Jahren werden ihre Besuche in Polen häufiger; als Zeitzeugin arbeitet sie mit den pädagogischen Mitarbeitern in Auschwitz zusammen. Seit einiger Zeit nimmt sie die Aufgabe der Sprecherin des Komitees der Auschwitz-Überlebenden wahr.

Der ersten Reise nach  Deutschland 1989 folgen viele weitere, besonders auch an den Schulen in der Partnerstadt Marl, denn ihre Erfahrungen möchte sie besonders an junge Menschen weiterzugeben. Im Mittelpunkt ihrer Erzählungen steht der Überlebenskampf im Warschauer Ghetto und in Auschwitz. Diese Orte nehmen in den Veranstaltungen mit Halina Birenbaum ebenso konkrete Gestalt an, wie die in den Vernichtungslagern ermordeten Angehörigen ihrer Familie.

Halina Birenbaum als Rednerin am 27.1.2015 auf der Gedenkfeier in Auschwitz

Am  27.1.2015 hielt Halina Birenbaum als Ehrengast und Sprecherin der Holocaustüberlebenden eine international viel beachtete und gewürdigte Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz auf der großen internationalen Gedenkveranstaltung auf dem ehemaligen Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz.

Den Opfern ein Gesicht zu geben, ist das zentrale Ziel von Halina Birenbaum. Ihr Berichte, ihre Antworten auf viele Fragen, die – vor allem mit Blick auf die in ihren Unterarm eintätowierte Nummer – nicht einfach zu stellen sind, lassen die Vergangenheit auf eine Weise lebendig erscheinen, wie es nur durch Zeitzeugen möglich ist. Gleichzeitig überzeugt diese kleine energische Frau in ihrem Überlebensmut und ihrem Willen zur Verständigung – übrigens auch im Hinblick auf das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern.

Literatur:

  • Halina Birenbaum, Die Hoffnung stirbt zuletzt, Auschwitz 1993 / Frankfurt 1995
  • Halina Birenbaum, Rückkehr in das Land der Väter. Erinnerungen, Frankfurt 1998
  • Ralf Thier-Hirse/Ernst Spranger (Hrsg.), Halina Birenbaum: Das Leben als Hoffnung,  Münster 2004
  • Halina Birenbaum, Jeder zurück gewonnene Tag, Erinnerungen, Marl 2004

 

Weitere Informationen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Halina_Birenbaum

Video vom 27.1.2015:

http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/videos/kz-ueberlebende-birenbaum-plaediert-fuer-menschlichkeit-und-miteinander-100.html

Video verfügbar bis 27.01.2020

Alle Informationen zusammengestellt von: Christel Schrieverhoff

Quelle des Beitragsbildes: Fot. Mikołaj Grynberg, https://www.tygodnikpowszechny.pl/sypie-sie-ze-mnie-28950